14
Dezember
2023
|
15:30
Europe/Amsterdam

Die Wahrheit im Zeitalter der technischen Manipulierbarkeit

Zusammenfassung

Künstliche Intelligenz: Sie bringt faszinierende neue Möglichkeiten in den Alltag und das Wirtschaftsleben. Aber sie öffnet auch Desinformation und Manipulation Tor und Tür. Unternehmen könnten dagegenhalten.

Written by: Stefan Paul Mechnig, Nils Janus

„Das erste Opfer eines jeden Krieges ist die Wahrheit“ – dieses häufig benutzte Zitat ist wieder beklemmend aktuell. Angesichts des Krieges in der Ukraine, den der Aggressor Russland als „militärische  Spezialoperation“ verniedlicht. Oder mit Blick auf die Gewaltspirale im Nahen Osten, wenn andauernd betont werden muss, dass Nachrichten und vor allem Bilder von den Kämpfen im Gazastreifen nicht von unabhängiger Seite überprüft werden können. 

Wahrheit und Fakten: seit jeher ebenso vermintes Terrain wie gefährdetes Biotop; besonders in Zeiten geopolitischer Krisen und des Umsichgreifens populistischer Parolen. Nun aber ist eine neue Dimension in dieses Spannungsfeld gekommen, in Gestalt der digitalen Revolution. Soziale Netzwerke geben plötzlich Millionen von Stimmen Raum, können sie ins Unermessliche potenzieren und schicken Milliarden von Informationen täglich in Millisekunden um die Welt. Der Algorithmus ist der Taktgeber unserer Zeit für Themensetzung, Meinungsbildung und Weltsicht. 

Schillernder Disruptor

Mit dem Siegeszug der Künstlichen Intelligenz – in der öffentlichen Wahrnehmung schillernd zwischen Wunderding und Unheilbringer – ist noch einmal eine neue Entwicklungsstufe erreicht. Auf der einen Seite wird sie begrüßt, gerade auch in der Wirtschaft. Unternehmen sehen darin, zu Recht, einen Schrittmacher des Fortschritts auf vielen Ebenen. So lassen sich zum Beispiel bei Covestro jetzt in der Forschung viel schneller neue chemische Formulierungen finden, aus denen Innovation entstehen können, die wir zur Lösung vieler globaler Herausforderungen wie dem Klimawandel und der Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung dringend brauchen. Der Kunststoffhersteller setzt daher auf generative KI in der ganzen Breite.

Auf der anderen Seite ist in der Gesellschaft ein Unbehagen greifbar. In Deutschland beispielsweise hat eine Umfrage über die Haltung zu Künstlicher Intelligenz vom April 2023 erhebliche Ängste zutage gefördert. Demnach meint die deutliche Mehrheit der Befragten, KI könne unter anderem zu einer Beeinflussung des öffentlichen Diskurses führen, ja zu einer Bedrohung für die Menschen werden. Und in den USA stehen laut einer YouGov-Erhebung vom September die Verbreitung von irreführenden Deepfakes in Bild und Ton sowie von politischer Propaganda an erster Stelle dessen, was den Menschen in Zusammenhang mit KI große Sorge bereitet. Der Chatbot als Demagoge.

Mehr kritisches Bewusstsein

Die Antwort der Politik lautet vor allem: die Technologie einhegen. Entsprechend hat sich die EU jetzt auf das weltweit erste KI-Gesetz verständigt. Aber mit Regulierung, Kontrolle und Verboten kommen wir nicht wirklich weiter. Denn nicht die KI an sich ist das Problem. Der entscheidende Faktor sind vielmehr wir Menschen. Die KI spiegelt nur, was sie von uns erfährt, was wir ihr einpflanzen. Es liegt letztlich an uns allen, dafür Sorge zu tragen, die Technologie an humanistischen Maßstäben auszurichten. Daher braucht es mehr kritisches Bewusstsein in der Gesellschaft.

Dazu können die Wirtschaft und Unternehmen einen Beitrag leisten. Schon allein, weil ihre Mitarbeitenden ähnliche Befürchtungen umtreiben dürften. Aber auch, weil die Firmen in einer besonderen Verantwortung für die Gesellschaft stehen. Sind sie doch in unserer komplexen, unsicheren Zeit diejenige Institution, der noch am meisten Vertrauen entgegengebracht wird, vor der Politik, den Medien und zivilgesellschaftlichen Organisationen.

Von diesem Vertrauenskapital können die Unternehmen etwas zurückgeben. Sie können und sollten für wissenschaftlich objektivierbare Wahrheit und faktenbasierten Dialog in Zeiten der technischen Manipulierbarkeit eintreten (um den Walter-Benjamin-Buchtitel vom Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit aufzugreifen).

Faktor Mensch hervorheben

Dem Hinterfragen, Analysieren und Bewerten kommt künftig eine immer höhere Bedeutung zu. Und gerade naturwissenschaftlich orientierte Branchen wie die Chemie können mitwirken, diese Fähigkeiten weiterzuentwickeln oder wachzurufen. Der Mensch hat es in der Hand, KI nach seinen Werten und Vorstellungen zu gestalten – diese konstruktive Botschaft gilt es in die verunsicherte Gesellschaft zu tragen. Covestro etwa wird einen geplanten KI-basierten „virtuellen Assistenten“ für die Mitarbeitenden so anlernen, dass dessen Antworten dem Verhaltenskodex und Ethos des Unternehmens entsprechen. 

Was die Firmen noch tun können? Mithelfen, eine Kultur des Vertrauens aufzubauen. Indem wir andere benennen, denen wir selbst vertrauen – Wissenschaftler, Journalisten und Blogger, kleine und große Vereine, Think Tanks, Start-ups oder etablierte Firmen. Eine Koalition der Vorreiter, die zeigt: Nur eine faktenbasierte Weltsicht im Verbund mit kritischem Optimismus bringen uns weiter.

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