16
März
2023
|
14:18
Europe/Amsterdam

Schiedsrichter, nicht Schulmeister

Written by: Dr. Markus Steilemann
Zusammenfassung

Der Covestro Vorstandsvorsitzende begrüßt die Initiative der EU-Kommission für ein neues Netto-Null-Industriegesetz. Den aktuellen Vorschlag von Kommissionspräsidentin von der Leyen nimmt er zum Anlass für Gedanken zur Industriepolitik.

Mammutkonferenzen von Politik und Wirtschaft haben häufig keinen leichten Stand. Viele hochfliegende Pläne, wenig konkrete Ergebnisse – so lautet meist die Kritik. Dass es auch anders geht, hat kürzlich der Artenschutzgipfel von Montreal gezeigt: Weite Teile von Land und Meer sollen bald unter Schutz gestellt werden. Und auch das oft totgesagte Weltwirtschaftsforum sorgte für Aufsehen, als Ursula von der Leyen vor zwei Monaten in Davos vor die Mikrofone trat. Die EU-Kommissionspräsidentin kündigte an, Europa zum Motor für grüne Industrien zu machen. Und hat nun erfreulich rasch nachgelegt mit dem Vorschlag für ein Netto-Null-Industriegesetz.

Das ist absolut richtig und nötig. Denn Klimaneutralität und darüber hinaus Nachhaltigkeit in all ihren Dimensionen erweist sich immer mehr als das Großprojekt der Menschheit im 21. Jahrhundert. Ökologisch: Wir müssen das Lebenserhaltungssystem der Erde vor dem Kollaps retten. Gesellschaftlich: Wir müssen mehr soziale Gerechtigkeit und Teilhabe ermöglichen. Ökonomisch: Wir müssen neue Wege für Wachstum, Wohlstand und Wohlbefinden beschreiten. Da ist es nur konsequent, wenn Europa seine Green-Deal-Ambitionen mit Leben füllt – um zumindest mitzuhalten mit anderen Öko-Treibern wie den USA und China.

Starke Industrie, fähiger Staat

Doch der Vorstoß der Kommission wirft überdies ein Schlaglicht auf zwei zentrale Sachverhalte. Erstens: Wir brauchen insgesamt eine starke Industrie, um die enormen Herausforderungen in unserer schnelllebigen, zunehmend fragilen Welt zu bewältigen. Eine Industrie, die ganz vorn dabei ist, um die Transformationsagenda für eine grüne, smarte Zukunft umzusetzen: Energiewende, neue Mobilität, digitale Revolution... Eine Industrie, die das richtige Umfeld hat, um bestmöglich zu forschen, zu entwickeln und zu investieren. Das gilt auch und besonders für die Chemie, die als „Mutter aller Industrien“ so vielen anderen Schlüsselsektoren zugrunde liegt.

Daraus leitet sich – zweitens – ab: Wir brauchen auch einen Staat, der diese Rahmenbedingungen setzt und sicherstellt. Viel ist ja derzeit die Rede von einer aktiven Industriepolitik. Eher wenig hört man, was darunter zu verstehen ist. Ich sehe es so: Wir brauchen den Staat als Schiedsrichter, der die Spielregeln bestimmt – aber nicht die Spielzüge. Es gilt, die Industrie durch eine konsistente, im klassischen Sinne liberale Ordnungspolitik für fairen, sozial verantwortlichen Wettbewerb zu unterstützen.

Wir brauchen den fähigen Staat, der für ein marktwirtschaftliches Umfeld mit gleichen Startvoraussetzungen sorgt. Der Leitplanken setzt, die auch dem Gemeinwohl dienen: generationengerecht, Umwelt bewahrend. Und der innerhalb dieses Rahmens ein eigenverantwortliches Handeln der Wirtschaft ermöglicht. Ein fähiger Staat hat aber auch den Mut, die Spielregeln nachzubessern, wenn die Situation es erfordert. Umzuschwenken, wenn unvorhersehbare Krisen auftauchen.

Konsistent, verlässlich, agil

Proaktive Industriepolitik ist für mich mithin dreierlei: konsistent, verlässlich und agil. Sie sollte Grundsätze wahren wie etwa Technologieneutralität oder das Verursacherprinzip. Sie darf – nach innen wie in der Außenwirtschaft – niemanden ungerechtfertigt bevorzugen, keine Partikularinteressen bedienen. Und vor allem: Sie gibt nur die Ziele vor, setzt Anreize und Meilensteine. Die Ausgestaltung muss den Unternehmen überlassen bleiben. Also: Schiedsrichter, nicht Schulmeister. 

In der Vergangenheit ist der Schiedsrichter seiner Rolle jedoch oft nicht gerecht geworden. Das Ergebnis sind zum Beispiel vielerorts marode Infrastrukturen, schmerzhafte Defizite im Bildungs- und Gesundheitswesen. Mehr noch: Die globale Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Europa ist gefährdet durch strukturell viel zu hohe Energiepreise, durch überbordende Bürokratie und Regulierung. Auch hier muss eine konsequente Industriepolitik ran. Und wir müssen zurück zum regelbasierten multilateralen Wirtschaftssystem, das durch geopolitische Konflikte und nationale Egoismen ausgehöhlt wird. Wenn nicht, bleibt von der Leyens grüner Industrieplan Flickschusterei.

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